»Es ist … Es ist …«
»Es ist klein.«
»Nein, es ist, wie soll ich sagen … schmuck. Ja, es ist regelrecht schmuck und … pittoresk, nicht wahr?«
»Sehr pittoresk«, wiederholte Camille lachend.
Er schwieg einen Moment.
»Wahrhaftig? Sie wohnen hier?«
»Eh, ja.«
»Ganz?«
»Ganz.«
»Das ganze Jahr?«
»Das ganze Jahr.«
»Es ist klein, nicht wahr?«
»Ich heiße Camille Fauque.«
»Natürlich, erfreut. Philibert Marquet de La Durbellière«, verkündete er und stand auf, wobei er mit dem Kopf an die Decke stieß.
»So lang?«
»Oh ja.«
»Haben Sie einen Spitznamen?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Haben Sie meinen Kamin gesehen?«
»Pardon?«
»Hier. Mein Kamin.«
»Da, da ist er ja! Sehr schön«, fügte er hinzu und setzte sich wieder, wobei er seine Beine vor den Plastikflammen ausstreckte, »sehr, sehr schön. Man könnte meinen, man sei in einem englischen Cottage, ist es nicht so?«
Camille war zufrieden. Sie hatte sich nicht geirrt. Dieser Junge war ein komischer Kauz, aber ein vollkommenes Geschöpf.
»Er ist schön, nicht?«
»Herrlich! Zieht er wenigstens gut?«
»Ausgezeichnet.«
»Und das Holz?«
»Ach, wissen Sie, bei dem Sturm, da braucht man sich heutzutage nur zu bücken.«
»Ich weiß es leider nur zu gut. Wenn Sie das Unterholz bei meinen Eltern sähen. Eine wahre Katastrophe. Aber das hier ist Eiche, oder?«
»Sehr gut!«
Sie lächelten sich an.
»Wäre Ihnen ein Glas Wein genehm?«
»Äußerst.«
Camille war vom Inhalt des Koffers entzückt. Es fehlte nichts, die Teller waren aus Porzellan, das Besteck aus vergoldetem Silber, die Gläser aus Kristall. Es gab sogar einen Salzstreuer, eine Pfeffermühle, Essig und Öl, Kaffeetassen, Teetassen, Servietten aus besticktem Leinen, eine Schüssel, eine Saucière, eine Obstschale, ein Döschen für Zahnstocher, einen Zuckerstreuer, Fischbesteck und eine Kanne für Kakao. Auf alldem war das Wappen der Familie ihres Gastes eingraviert.
»So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.«
»Verstehen Sie, daß ich nicht gestern kommen konnte? Wenn Sie wüßten, wie viele Stunden ich damit zugebracht habe, alles zu polieren, bis es glänzt.«
»Das hätten Sie mir doch sagen können!«
»Meinen Sie nicht, wenn ich vorgegeben hätte: ›Heute abend nicht, ich muß meinen Koffer noch auf Vordermann bringen‹, Sie hätten mich dann für verrückt gehalten?«
Sie enthielt sich wohlweislich eines Kommentars.
Sie breiteten eine Tischdecke auf dem Boden aus, und Philibert Soundso deckte auf.
Sie setzten sich in den Schneidersitz, erfreut, vergnügt, wie zwei Kinder, die ihr neues Puppengeschirr einweihen, peinlichst darauf bedacht, daß nichts zu Bruch geht. Camille, die nicht kochen konnte, war zu Goubetzkoï gegangen und hatte eine Auswahl an Taramas, Lachs, eingelegtem Fisch und Zwiebelpaste gekauft. Sorgfältig füllten sie die Schälchen des Großonkels und weihten eine Art praktischen Handtoaster ein, bestehend aus einem alten Topfdeckel und Alufolie, um die Blinis auf der Kochplatte zu erhitzen. Der Wodka lag in der Dachrinne, und man brauchte nur das Oberlicht aufzumachen, um sich einzuschenken. Dieses Auf- und Zumachen kühlte das Zimmer zwar aus, aber der Kamin knisterte und bezog sein Feuer von Gott.
Wie gewöhnlich trank Camille mehr, als sie aß.
»Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?«
»Aber ich bitte Sie. Ich würde allerdings gerne meine Beine ausstrecken, ich fühle mich ganz steif.«
»Setzen Sie sich auf mein Bett.«
»A… aber nicht doch, ich … Ich werde nichts dergleichen tun.«
Bei der geringsten Gefühlsregung vergaß er seine Wörter und seine Eloquenz.
»Aber ja doch, nur zu! Im Grunde ist es ein Schlafsofa.«
»Wenn das so ist.«
»Wir könnten uns vielleicht duzen, Philibert?«
Er erbleichte.
»Oh nein, ich … Was mich betrifft, ich könnte es nicht, aber Sie … Sie …«
»Stop! Zapfenstreich! Ich habe nichts gesagt! Ich habe nichts gesagt! Außerdem finde ich das Siezen wunderbar, es ist sehr charmant, sehr …«
»Pittoresk?«
»Genau!«
Philibert aß auch nicht viel, aber er war so langsam und so behutsam, daß unsere perfekte kleine Hausfrau sich dazu beglückwünschte, ein kaltes Abendessen vorgesehen zu haben. Zum Nachtisch hatte sie Quark gekauft. Tatsächlich hatte sie wie gelähmt vor den Schaufensterauslagen eines Konditors gestanden, völlig fassungslos und außerstande, auch nur einen einzigen Kuchen auszuwählen. Sie holte ihre kleine italienische Espressokanne hervor und trank die schwarze Brühe aus einer Tasse aus derart dünnem Porzellan, daß sie überzeugt war, sie würde zerbrechen, wenn sie daran knabberte.
Sie waren nicht sehr gesprächig. Sie waren es nicht mehr gewohnt, ihre Mahlzeit mit jemandem zu teilen. Das Protokoll war folglich nicht sehr ausgereift, und beiden fiel es schwer, sich aus ihrer Einsamkeit zu lösen. Doch sie waren wohlerzogen und gaben sich Mühe, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Wurden heiter, stießen mit den Gläsern an, gingen das ganze Viertel durch. Die Kassiererinnen im Supermarkt – Philibert mochte die Blonde, Camille zog die Brünette vor –, die Touristen, die Lichtspiele auf dem Eiffelturm und die Hundekacke. Entgegen allen Erwartungen entpuppte sich ihr Gast als perfekter Unterhalter, belebte fortwährend das Gespräch und spickte es mit unzähligen lustigen und belanglosen Themen. Er begeisterte sich für die Geschichte Frankreichs und gestand ihr, daß er den Großteil seiner Zeit in den Kerkern Ludwigs XI. zugebracht hatte, im Vorzimmer Franz I. am mittelalterlichen Tisch der Vendée-Bauern oder mit Marie-Antoinette in der Conciergerie, einer Frau, für die er eine große Leidenschaft hegte. Sie warf ihm ein Thema oder eine Epoche zu und erfuhr eine Unmenge pikanter Details. Über die Kleiderordnung, die Intrigen am Hof, die Höhe der Salzsteuer und die Ahnenfolge der Kapetinger.
Es war sehr amüsant.
Sie hatte das Gefühl, sich auf der Internetseite von Alain Decaux zu befinden.
Ein Klick, eine Zusammenfassung.
»Und Sie sind Lehrer oder so was in der Art?«
»Nein, ich … Nun ja. Ich arbeite in einem Museum.«
»Sind Sie Konservator?«
»Was für ein hochtrabendes Wort! Nein, ich bin eher mit dem kaufmännischen Bereich betraut.«
»Oh«, fügte sie ernst hinzu, »das muß aufregend sein. In welchem Museum?«
»Das kommt drauf an, ich springe. Und Sie?«
»Ach, ich … Das ist weniger interessant, leider, ich arbeite in einem Büro.«
Als er ihre mißmutige Miene sah, besaß er den nötigen Takt, nicht weiter bei dem Thema zu verweilen.
»Ich habe leckeren Quark mit Aprikosenkonfitüre, sagt Ihnen das zu?«
»Sehr! Und Ihnen?«
»Oh danke, aber diese vielen russischen Häppchen haben mich völlig gesättigt.«
»Sie sind nicht gerade beleibt.«
Aus Furcht, er habe etwas Verletzendes gesagt, fügte er sogleich hinzu:
»Aber Sie sind … äh … anmutig. Ihr Gesicht erinnert mich an Diane de Poitiers.«
»War sie hübsch?«
»Oh! Mehr als hübsch!« Er errötete leicht. »Ich … Sie … Sind Sie nie im Schloß Anet gewesen?«
»Nein.«
»Dann wird es aber Zeit. Es ist ein herrlicher Ort, den sie von ihrem Liebhaber, König Heinrich IL, geschenkt bekam.«
»Aha?«
»Ja, er ist sehr schön, eine Art Hymne an die Liebe, ihre Initialen sind überall ineinander verschlungen. Im Stein, im Marmor, im Gußeisen, im Holz und auf ihrem Grab. Und auch ergreifend. Wenn ich mich recht entsinne, sind seine Salbendöschen und seine Haarbürsten immer noch da, in seinem Waschraum. Ich werde Sie dort einmal hinführen.«
»Wann?«
»Im Frühling vielleicht?«
»Zu einem Picknick?«
»Selbstverständlich.«
Sie schwiegen einen Moment. Camille versuchte, die Löcher in seinen Schuhen zu übersehen, und Philibert tat das gleiche mit den Salpeterflecken an den Wänden. Sie begnügten sich damit, ihren Wodka in kleinen Schlucken zu genießen.
»Camille?«
»Ja?«
»Wohnen Sie hier wirklich jeden Tag?«
»Ja.«
»Aber äh … der äh … Ich meine … der Abort.«
»Auf dem Treppenabsatz.«
»Ah?«
»Müssen Sie mal?«
»Nein, nein, ich habe mich nur gerade gefragt.«
»Sorgen Sie sich etwa um mich?«
»Nein, das heißt … ja. Es ist … so spartanisch, nicht?«
»Sie sind sehr liebenswürdig. Aber es ist alles in Ordnung. Alles in Ordnung, das versichere ich Ihnen, und außerdem habe ich jetzt einen schönen Kamin!«
Er schien nicht länger so begeistert.
»Wie alt sind Sie? Wenn es nicht zu indiskret ist, natürlich …«
»Sechsundzwanzig. Im Februar werde ich siebenundzwanzig.«
»Wie meine kleine Schwester.«
»Sie haben eine kleine Schwester?«
»Nicht eine, sechs!«
»Sechs Schwestern!«
»Ja. Und einen Bruder.«
»Und Sie wohnen allein in Paris?«
»Ja, das heißt, mit meinem Mitbewohner.«
»Verstehen Sie sich gut?«
Als er nicht antwortete, insistierte sie:
»Nicht sehr gut?«
»Doch, doch. Alles in Ordnung! Wir sehen uns ohnehin so gut wie nie.«
»Aha?«
»Sagen wir so, es ist nicht gerade das Schloß Anet!«
Sie lachte.
»Arbeitet er?«
»Er tut nichts anderes. Er arbeitet, schläft, arbeitet, schläft. Und wenn er nicht schläft, bringt er Mädchen mit … Eine seltsame Person, die sich ausschließlich brüllend verständigen kann. Ich begreife nicht, was sie an ihm finden. Das heißt, ich habe da schon so meine Vorstellungen, aber nun …«
»Was macht er?«
»Er ist Koch.«
»Oh? Kocht er Ihnen wenigstens was Nettes?«
»Niemals. Ich habe ihn noch nie in der Küche gesehen. Außer morgens, wenn er meine Kaffeekanne geißelt.«
»Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Gott bewahre, nein! Ich habe ihn durch eine Anzeige gefunden, einen Zettel auf der Theke der Bäckerei gegenüber: Junger Koch im Vert Galant sucht Zimmer für seinen Mittagsschlaf in der nachmittäglichen Arbeitspause. Anfangs kam er nur ein paar Stunden täglich, und dann war er plötzlich ganz da.«
»Stört Sie das?«
»Keineswegs! Ich habe es ihm selbst vorgeschlagen. Denn, Sie werden sehen, eigentlich ist es ein bißchen groß für mich. Und außerdem kennt er sich mit allem aus. Mir, der ich nicht einmal eine Glühbirne wechseln kann, kommt das sehr gelegen. Er kennt sich mit allem aus, er ist ein ausgemachter Fuchs, wahrhaftig. Seit er bei mir wohnt, ist meine Stromrechnung zusammengeschmolzen wie Schnee in der Sonne.«
»Hat er den Zähler manipuliert?«
»Er manipuliert alles, was er berührt, so mein Eindruck. Ich weiß nicht, was er als Koch taugt, aber als Bastler rangiert er ganz oben. Und da bei mir alles verfällt … Nein … Und außerdem mag ich ihn. Ich habe mich noch nie richtig mit ihm unterhalten, aber ich habe das Gefühl, daß er … Nun ja, ich weiß es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, mit einem Mutanten unter einem Dach zu wohnen.«
»Wie in Alien!«
»Pardon?«
»Nein. Nichts.«
Da Sigourney Weaver noch nie mit einem König dunkle Geschäfte gemacht hatte, ließ sie es bleiben.
Sie räumten gemeinsam auf. Als er ihr winziges Waschbecken sah, bat Philibert sie inständig, ihm den Abwasch zu überlassen. Da sein Museum montags geschlossen sei, habe er am nächsten Tag nichts anderes zu tun.
Sie verabschiedeten sich in aller Form.
»Das nächste Mal kommen Sie zu mir.«
»Gerne.«
»Ich habe aber bedauerlicherweise keinen Kamin.«
»Tja! Es hat nicht jeder das Glück, ein Landhaus in Paris zu besitzen.«
»Camille?«
»Ja.«
»Sie passen auf sich auf, nicht wahr?«
»Ich bemühe mich. Sie aber auch, Philibert.«
»Ich … I…«
»Ja?«
»Ich muß Ihnen unbedingt … die Wahrheit sagen, es ist nämlich so, daß ich nicht wirklich in einem Museum arbeite, wissen Sie? Eher draußen … In einem Laden oder so. Ich … Ich verkaufe Postkarten.«
»Und ich, ich arbeite nicht wirklich in einem Büro, wissen Sie? Auch eher draußen. Ich gehe putzen.«
Sie tauschten ein schicksalergebenes Lächeln und gingen verschämt auseinander.
Verschämt und erleichtert.
Es war ein äußerst gelungenes russisches Abendessen.
12
»Was ist das für ein Geräusch?«
»Keine Panik, das ist unser Herzog.«
Aber was macht er denn da? Klingt, als wollte er die Küche unter Wasser setzen.«
»Scheißegal, laß gut sein. Komm lieber her, du.«
»Nein, laß mich.«
»Los, komm schon. Komm … Warum ziehst du dein T-Shirt nicht aus?«
»Mir ist kalt.«
»Jetzt komm schon.«
»Ein komischer Kauz, oder?«
»Total gaga. Du hättest ihn sehen sollen, wie er vorhin gegangen ist, mit seinem Stock und seinem Clownshut. Ich dachte, er wollte zu einem Kostümball.«
»Wo ist er hin?«
»Zu einem Mädchen, glaube ich.«
»Einem Mädchen!«
»Ich glaub schon, was weiß ich. Ist doch egal. Komm, dreh dich um, Scheiße.«
»Laß mich.«
»He, Aurélie, du nervst echt.«
»Aurélia, nicht Aurélie.«
»Aurélia, Aurélie, ist doch egal. Okay. Und deine Socken, willst du die die ganze Nacht anbehalten?«
13
Obwohl es strengstens verboten war, strictly forbidden, legte Camille ihre Kleider auf den Kaminsims, blieb so lange wie möglich im Bett, zog sich unter der Decke an und wärmte die Knöpfe ihrer Jeans in den Händen vor, bevor sie sie überstreifte.
Das Dichtungsband aus Schaumstoff schien nicht sehr effektiv zu sein, und sie hatte ihre Matratze verschoben, um nicht länger dem gräßlichen Luftzug ausgesetzt zu sein, der sich ihr durch die Stirn bohrte. Jetzt lag ihr Bett vor der Tür, und das Kommen und Gehen war ein ziemlicher Aufstand. Sie war ständig dabei, die Matratze hierhin und dorthin zu ziehen, um auch nur drei Schritte machen zu können. Was für ein Elend, dachte sie, was für ein Elend … Und dann war es passiert, sie war schwach geworden, pinkelte in ihr Waschbecken, wobei sie sich an der Wand abstützte, um es nicht herunterzureißen. Von ihrer Stehklodusche ganz zu schweigen.
Folglich war sie schmutzig. Das heißt, vielleicht nicht wirklich schmutzig, aber weniger sauber als sonst. Ein-, zweimal die Woche, wenn sie sich sicher war, sie nicht zu Hause anzutreffen, ging sie zu den Kesslers. Sie kannte die Zeiten der Putzfrau, und diese hielt ihr seufzend ein großes Frotteehandtuch hin. Sie konnte niemandem etwas vormachen. Sie zog immer mit einem Carepaket oder einer zusätzlichen Decke wieder ab. Einmal allerdings, als sie sich die Haare trocknete, war es Mathilde gelungen, sie sich vorzuknöpfen:
»Willst du nicht wieder für einige Zeit hier wohnen? Du könntest dein altes Zimmer wiederhaben?«
»Nein, vielen Dank, vielen Dank euch beiden, aber es ist in Ordnung. Es geht mir gut.«
»Arbeitest du?«
Camille schloß die Augen.
»Ja, ja.«
»Wie weit bist du mit der Arbeit? Brauchst du Geld? Gib uns was, Pierre könnte dir einen Vorschuß geben, weißt du?«
»Nein. Ich habe im Moment nichts fertig.«
»Und die ganzen Bilder bei deiner Mutter?«
»Ich weiß nicht. Man müßte sie mal durchsehen. Ich habe keine Lust.«
»Und deine Selbstporträts?«
»Die sind unverkäuflich.«
»Woran sitzt du denn zur Zeit?«
»Nichts Großes.«
»Warst du mal wieder am Quai Voltaire?«
»Noch nicht.«
»Camille?«
»Ja.«
»Willst du nicht mal diesen verfluchten Fön ausstellen? Damit man sich besser unterhalten kann?«
»Ich habe es eilig.«
»Was machst du denn genau?«
»Pardon?«
»Was für ein Leben führst du zur Zeit? Wie sieht es genau aus?«
Um nie wieder auf solche Fragen antworten zu müssen, stürzte Camille, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und stieß die Tür zum erstbesten Friseur auf.
14
»Einmal kahlrasieren«, sagte sie zu dem jungen Mann, der über ihr im Spiegel aufragte.
»Wie bitte?«
»Ich möchte, daß Sie mich kahlscheren.«
»Eine Glatze?«
»Ja.«
»Nein. Das kann ich nicht machen.«
»Doch, doch, das können Sie. Nehmen Sie Ihre Schneidemaschine, und legen Sie los.«
»Nein, wir sind hier nicht bei der Armee. Ich will Ihnen die Haare gern kurz schneiden, aber keine Glatze. Das ist nicht der Stil des Hauses … Nicht, Carlo?«
Carlo stand hinter der Kasse und las eine Zeitschrift über Pferderennen.
»Worum geht’s?«
»Die junge Frau hier möchte, daß wir ihr einen Kahlschnitt verpassen.«
Der andere wedelte mit der Hand, was so viel bedeutete wie, was kümmert’s mich, ich habe gerade zehn Euro verzockt, also geht mir nicht auf die Nerven.
»Fünf Millimeter.«
»Pardon?«
»Ich schneide sie Ihnen auf fünf Millimeter, sonst trauen Sie sich nicht mal mehr hier raus.«
»Ich habe meine Mütze.«
»Ich habe meine Prinzipien.«
Camille lächelte ihm zu, nickte zum Zeichen der Zustimmung und spürte das Summen des Rasierers im Nacken. Ganze Haarsträhnen verteilten sich über den Boden, während sie die seltsame Person anstarrte, die ihr gegenübersaß. Sie erkannte sie nicht wieder, erinnerte sich kaum mehr an ihr Aussehen vor wenigen Sekunden. Es war ihr egal. Von jetzt an wäre es nicht mehr so ein Krampf, auf dem Treppenabsatz zu duschen, und nur das zählte.
Im stillen befragte sie ihr Spiegelbild: Na? War es das? Das Programm? Sich durchschlagen, auch auf die Gefahr hin, sich zu verunstalten, auf die Gefahr hin, sich aus den Augen zu verlieren, um niemals jemandem etwas schuldig zu sein?
Nein, ernsthaft? War es das?
Sie fuhr sich mit der Hand über den stoppeligen Schädel und hätte am liebsten geheult.
»Gefällt es Ihnen?«
»Nein.«
»Ich habe sie gewarnt.«
»Ich weiß.«
»Das wächst wieder.«
»Glauben Sie?«
»Da bin ich mir ganz sicher.«
»Noch eins von Ihren Prinzipien …«
»Dürfte ich Sie um einen Kuli bitten?«
»Carlo?«
»Mmm?«
»Einen Kuli für die Dame.«
»Wir akzeptieren keine Schecks unter fünfzehn Euro.«
»Nein, nein, es ist für was anderes.«
Camille nahm ihren Block und zeichnete, was sie im Spiegel sah.
Ein kahlköpfiges Mädchen mit strengem Blick, das in der Hand den Stift eines vergrätzten Pferderennfanatikers hielt und unter dem belustigten Blick eines jungen Mannes saß, der sich auf seinen Besenstiel stützte. Sie vermerkte ihr Alter und stand auf, um zu zahlen.
»Bin ich das?«
»Ja.«
»Irre, Sie zeichnen verdammt gut!«
»Ich gebe mir Mühe.«
15
Der Sanitäter, es war nicht derselbe wie beim letzten Mal, Yvonne hätte ihn wiedererkannt, rührte pausenlos mit seinem kleinen Löffel im Kaffee:
»Ist er zu heiß?«
»Pardon?«
»Der Kaffee? Ist er zu heiß?«
»Nein, alles in Ordnung, danke. Na ja, das ist nicht alles, ich muß unbedingt noch meinen Bericht schreiben.«
Paulette saß niedergeschlagen auf der anderen Seite des Tischs. Jetzt war sie fällig.
16
»Hattest du Läuse?« fragte Mamadou.
Camille zog gerade ihren Kittel über. Sie hatte keine Lust zu reden. Zu viele Steine, zu kalt, zu empfindlich.
»Bist du eingeschnappt?«
Sie schüttelte den Kopf, holte ihr Wägelchen bei den Mülltonnen und ging Richtung Fahrstuhl.
»Fährst du rauf in den fünften?«
»Hmm hmm …«
»Und warum mußt immer du in den fünften? Das ist doch nicht normal! Laß dir nicht alles gefallen! Soll ich mal mit der Chefin sprechen? Macht mir nix aus, ihr mal den Marsch zu blasen, weißt du! Ha! Mir doch scheißegal!«
»Nein, danke. Der fünfte oder ein anderer, mir ist das gleich …«
Die Mädels mochten diese Etage nicht, weil es die Etage der Chefs und der verschlossenen Büros war. Die anderen, die »oupen schpäsis«, wie die Bredart sagte, waren leichter und vor allem schneller zu reinigen. Man brauchte bloß die Mülleimer zu leeren, die Sessel an die Wand zu rücken und einmal mit dem Staubsauger durchzugehen. Man konnte sogar beherzt loslegen und auch mal gegen die Möbel stoßen, weil es ohnehin nur billiger Plunder war und sich keiner darum scherte.
Im fünften Stock hingegen erforderte jedes Zimmer ein ziemlich lästiges Ritual: Papierkörbe und Aschenbecher leeren, die Reißwölfe von Papier säubern, die Büros reinigen mit der Auflage, nichts anzufassen, nicht die kleinste Büroklammer zu verlegen und sich außerdem die angrenzenden Besucherzimmer und die Sekretariate anzutun. Die Weiber, die überall Post-its hinklebten, als würden sie sich an ihre eigene Putzfrau wenden, wo sie sich zu Hause nicht einmal eine leisten konnten … Und bitte schön noch dies und bitte schön noch das, und das letzte Mal haben Sie diese Lampe verstellt und dieses Teil kaputtgemacht und laber laber laber … Die Art nichtsnutziger Ausführungen, die dazu angetan waren, Carine und Samia zur Weißglut zu treiben, Camille jedoch völlig kaltließen. Wenn eine Notiz zu feldwebelhaft war, schrieb sie darunter: Ich nicht verstehen französisch und klebte sie mitten auf den Bildschirm.
In den Etagen darunter räumten die Angestellten ihr Gerumpel wenigstens einigermaßen auf, aber hier oben galt es als chic, alles herumliegen zu lassen. Nach dem Motto, man ist überlastet, ist bestimmt widerwillig gegangen, könnte aber jederzeit zurückkommen und seinen Platz, seinen Posten und seine Verantwortung am Großen Steuerrad der Welt wieder einnehmen. Bitte, warum nicht … seufzte Camille. Jedem seine Hirngespinste … Es gab jedoch einen, hinten links, am Ende des Flurs, der ihr allmählich ziemlich auf den Keks ging. Hohes Tier hin oder her, der Typ war ein Schwein, und allmählich reichte es ihr. Nicht nur, daß es schmuddelig war, sein Büro stank nach Verachtung.
Zehnmal, hundertmal vielleicht, hatte sie unzählige Plastikbecher, in denen irgendwelche Kippen schwammen, geleert und weggeworfen und trockene Sandwichreste aufgesammelt, ohne darüber nachzudenken, aber heute war das Maß voll. Heute abend hatte sie keine Lust. Sie sammelte also alle Abfälle von diesem Kerl zusammen, seine alten Nikotinpflaster voller Haare, seine Absonderungen, seine am Aschenbecherrand klebenden Kaugummis, seine Streichhölzer und seine Papierkügelchen, machte daraus auf seiner wunderschönen Schreibtischunterlage aus Buckelochsenleder einen kleinen Haufen und hinterließ eine Nachricht an seine Adresse: Sehr geehrter Herr, Sie sind ein Schwein, und ich bitte Sie, diesen Ort künftig so sauber wie möglich zu hinterlassen. P.S.: Schauen Sie mal nach unten, dort steht so ein überaus praktisches Ding, namens Papierkorb … Sie schmückte ihre Tirade mit einer bösen Zeichnung, auf der man ein kleines Schwein im Dreiteiler sehen konnte, das sich bückte, um nachzuschauen, welche Kuriosität sich da unter seinem Schreibtisch befand. Anschließend gesellte sie sich zu ihren Kolleginnen, um ihnen mit der Eingangshalle zu helfen.
»Was grinst du so?« wunderte sich Carine.
»Nichts.«
»Du bist schon ’ne Nummer, du …«
»Was machen wir anschließend?«
»Die Treppen von B…«
»Schon wieder? Die haben wir doch grad erst gemacht!«
Carine zuckte mit den Schultern.
»Wollen wir?«
»Nein. Wir müssen noch auf Super Josy warten, wegen dem Bericht …«
»Was für einem Bericht?«
»Keine Ahnung. Wir benutzen anscheinend zuviel Putzmittel …«
»Das kapier, wer will … Neulich haben wir angeblich nicht genug genommen … Ich geh nach draußen, eine paffen, kommst du mit?«
»Ist mir zu kalt.«
Camille ging also allein nach draußen und lehnte sich an eine Straßenlaterne.
»… 02-12-03 … 00:34 … –4 °C …« lief die Leuchtschrift über das Schaufenster eines Optikers.
Da wußte sie, was sie Mathilde Kessler kürzlich hätte antworten sollen, als diese leicht gereizt gefragt hatte, wie ihr Leben im Moment aussehe.
»… 02-12-03 … 00:34 … –4 °C …«
Das war’s.
Genau so.
17
»Ich weiß! Ich weiß es ja! Aber warum machen Sie so ein Drama daraus? Das ist doch Blödsinn!«
»Hör mir zu, mein lieber Franck, erstens sprichst du in einem anderen Ton mit mir, und zweitens bist du gerade der Richtige, mir Vorhaltungen zu machen. Ich kümmere mich jetzt seit fast zwölf Jahren um sie, schaue mehrmals in der Woche bei ihr vorbei, nehme sie mit in die Stadt und passe auf sie auf. Zwölf Jahre, hörst du? Und bis jetzt kann man nicht behaupten, daß es dich groß interessiert hätte … Niemals ein Dankeschön, niemals ein Zeichen der Anerkennung, nichts. Nicht einmal neulich, als ich mit ihr ins Krankenhaus gefahren bin und sie anfangs jeden Tag besucht habe, ist dir der Gedanke gekommen, mich mal kurz anzurufen oder mir ein Blümchen zu schicken. Gut, das macht nichts, ich tue es nämlich nicht für dich, sondern für sie. Weil deine Großmutter ein feiner Mensch ist … Ein feiner Mensch, hörst du? Ich mache dir keine Vorwürfe, mein Junge, du bist jung, du wohnst weit weg, und du hast dein eigenes Leben, aber manchmal, weißt du, belastet mich das alles. Belastet es mich … Ich habe auch meine Familie, meine Sorgen und meine kleinen gesundheitlichen Beschwerden, deshalb sage ich es dir geradeheraus: Jetzt mußt du die Verantwortung übernehmen.«
»Wollen Sie, daß ich ihr Leben kaputtmache und sie in eine Anstalt stecke, nur weil sie einen Topf auf dem Herd vergessen hat, ja?«
»Hör mal! Du redest ja von ihr wie von einem Hund!«
»Nein, ich rede gar nicht von ihr! Sie wissen genau, wovon ich rede! Sie wissen genau, daß sie den Schock nicht verkraftet, wenn ich sie in eine Verwahrungsanstalt stecke. Scheiße noch mal! Sie haben doch gesehen, wie sie sich das letzte Mal angestellt hat!«
»Du mußt jetzt nicht ausfallend werden, weißt du?«
»Entschuldigen Sie, Madame Carminot, entschuldigen Sie … Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht … Ich … Ich kann ihr das nicht antun, verstehen Sie? Für mich ist das so, als würde ich sie umbringen …«
»Wenn sie allein bleibt, wird sie es sein, die sich umbringt …«
»Na und? Wäre das nicht besser?«
»So siehst du die Dinge, aber mich kriegst du damit nicht. Wenn der Briefträger letztens nicht im richtigen Moment dazukommen wäre, hätte das ganze Haus gebrannt, und das Problem ist, daß der Briefträger nicht immer dasein wird. Und ich auch nicht, Franck. Ich auch nicht. Es ist zuviel geworden, das Ganze … Zuviel Verantwortung … Jedesmal, wenn ich zu ihr komme, frage ich mich, wie ich sie vorfinden werde, und an den Tagen, an denen ich nicht vorbeigehe, kann ich nicht ruhig einschlafen. Wenn ich sie anrufe und sie nicht ans Telefon geht, werde ich verrückt, und am Ende gehe ich dann doch vorbei, um nachzusehen, wo sie herumirrt. Der Unfall neulich ist ihr nicht gut bekommen, sie ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Sie läuft den ganzen Tag im Morgenmantel herum, ißt nichts mehr, redet nicht mehr, liest ihre Post nicht. Erst gestern habe ich sie im Unterrock im Garten gefunden. Sie war völlig durchgefroren, die Ärmste. Nein, so kann ich nicht leben, ständig stelle ich mir das Schlimmste vor. So kann man sie nicht lassen. Das geht nicht. Du mußt etwas tun …«
»…«
»Franck? Hallo? Franck, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Man muß sich damit abfinden, mein Junge.«
»Nein. Von mir aus steck ich sie ins Hospiz, wenn ich keine andere Wahl habe, aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich mich damit abfinde, das kann ich nicht.«
»Verwahrungsanstalt, Hospiz … Warum sagst du nicht einfach ›Altenheim‹?«
»Weil ich genau weiß, wie das endet.«
»Sag das nicht, es gibt sehr gute Häuser. Die Mutter meines Mannes zum Beispiel hat …«
»Und Sie, Yvonne? Könnten Sie sich nicht um sie kümmern? Ich bezahle Sie dafür. Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen.«
»Nein, das ist sehr freundlich, aber nein, ich bin zu alt. Das kann ich mir nicht aufhalsen, ich habe schon meinen Gilbert, um den ich mich kümmern muß … Und außerdem braucht sie ärztliche Betreuung …«
»Ich dachte, sie ist Ihre Freundin?«
»Das ist sie auch.«
»Sie ist Ihre Freundin, aber es macht Ihnen nichts aus, sie ins Grab zu stoßen …«
»Franck, du nimmst sofort zurück, was du da gerade gesagt hast!«
»Sie sind doch alle gleich … Sie, meine Mutter, die anderen, alle! Sie behaupten, Sie würden die Leute lieben, aber sobald es darum geht, die Ärmel hochzukrempeln, ist keiner mehr da.«
»Ich bitte dich, steck mich nicht in eine Schublade mit deiner Mutter! Also wirklich! Was bist du undankbar, Franck … Undankbar und gemein!«
Sie legte auf.
Es war erst drei Uhr nachmittags, aber er wußte, er würde nicht mehr schlafen können.
Er war erschöpft.
Er schlug auf den Tisch, er schlug gegen die Wand, er schlug nach allem, was in seiner Nähe war.
Er zog sein Sportzeug an, um eine Runde zu joggen, und sank auf die erstbeste Bank.
Zuerst war es nur ein kleines Stöhnen, als hätte ihn jemand gezwickt, dann versagte ihm der ganze Körper. Er fing an, vom Kopf bis zu den Füßen zu zittern, seine Brust riß entzwei und entließ einen gewaltigen Schluchzer. Er wollte es nicht, er wollte es nicht, verflucht. Aber er hatte sich nicht mehr im Griff. Er heulte wie ein Riesenbaby, wie ein armer Irrer, wie einer, der sich anschickte, den einzigen Menschen auf der Welt umzubringen, der ihn jemals geliebt hatte. Den er jemals geliebt hatte.
Er krümmte sich, rotzverschmiert und vom Kummer erdrückt.
Als er sich endlich eingestand, daß er nicht dagegen ankam, wickelte er sich den Pullover um den Kopf und verschränkte die Arme.
Er hatte Schmerzen, ihm war kalt, er schämte sich.
Er blieb unter der Dusche, die Augen geschlossen, hielt das Gesicht in den Wasserstrahl, bis kein heißes Wasser mehr da war. Er schnitt sich beim Rasieren, weil er nicht den Mut hatte, in den Spiegel zu schauen. Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Nicht mehr. Die Dämme waren brüchig, und wenn er sich gehenließ, würden ihm tausend Bilder durch den Kopf schießen. Seine Omi, er hatte sie noch nie woanders gesehen als in diesem Haus. Am Morgen im Garten, die restliche Zeit in der Küche und am Abend an seinem Bett …
Als er klein war, litt er an Schlaflosigkeit, hatte Alpträume, schrie, rief nach ihr und erklärte, seine Beine würden in einem Loch verschwinden, sobald sie die Tür zumachte, und er müsse sich an die Gitterstäbe klammern, um nicht mit ihnen zusammen zu verschwinden. Die Lehrerinnen hatten ihr nahegelegt, einen Psychologen aufzusuchen, die Nachbarinnen schüttelten bedenklich den Kopf und rieten ihr, ihn eher zu einem Wunderheiler zu bringen, damit dieser ihm die Nerven wieder richte. Ihr Mann wiederum wollte sie davon abhalten, zu ihm nach oben zu gehen. Du verwöhnst ihn zu sehr! sagte er, du verziehst ihn, den Jungen! Meine Güte, du brauchst ihn doch nur weniger zu lieben! Laß ihn ruhig ein bißchen flennen, erstens pißt er dann weniger, und du wirst sehen, er schläft trotzdem wieder ein …
Sie sagte zu allen freundlich ja, ja und hörte auf niemanden. Sie machte ihm ein Glas heiße Milch, süßte es mit ein paar Orangenblüten, stützte ihm den Kopf, während er trank, und setzte sich auf einen Stuhl. Hier, siehst du, gleich neben dir. Sie verschränkte die Arme, seufzte und schlief mit ihm ein. Vor ihm oft. Das war nicht schlimm, solange sie da war, ging es. Da konnte er die Beine ausstrecken …
»Ich wollte dir nur sagen, daß kein warmes Wasser mehr da ist«, meinte Franck.
»Oh, das ist ärgerlich. Ich bedaure das sehr.«
»Scheiße Mann, hör auf, dich zu entschuldigen! Ich hab den Boiler leer gemacht, okay? Ich war es. Also entschuldige du dich nicht!«
»Bedaure, ich dachte …«
»He, und außerdem gehst du einem wirklich auf die Eier, wenn du immer den Bettvorleger spielen mußt, da hast du echt ein Problem.«
Er ging aus dem Zimmer, um seine Arbeitsklamotten zu bügeln. Er mußte sich unbedingt neue Jacken kaufen, er hatte nichts Sauberes mehr für die nächste Schicht. Er hatte keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit für nichts, Scheiße noch mal!
Er hatte bloß einen freien Tag in der Woche, den würde er ja wohl nicht im Altenheim auf einem Kuhdorf zubringen und seiner Großmutter beim Flennen zuschauen!
Philibert hatte sich schon mit seinen Pergamenten und den ganzen Wappenschilden auf dem Sessel niedergelassen.
»Philibert …«
»Ja bitte?«
»Hör zu … hm … Entschuldige mich wegen vorhin, ich … Ich mache gerade die Hölle durch und bin total gereizt, verstehst du … Außerdem bin ich todmüde.«
»Das ist nicht von Belang.«
»Doch, das ist von Belang.«
»Von Belang ist nur, daß du sagst ›entschuldige bitte‹ und nicht ›entschuldige mich‹. Ich kann dich dafür nicht entschuldigen, sprachwissenschaftlich gesehen ist das nicht korrekt.«
Franck starrte ihn einen Moment an, bevor er den Kopf schüttelte:
»Du bist schon ein komischer Kauz, Mann.«
Bevor er zur Tür hinausging, fügte er hinzu:
»Schau nachher mal in den Kühlschrank, ich hab dir was mitgebracht. Ich weiß nicht mehr, was es ist. Ente, glaub ich.«
Philibert bedankte sich bei einem Luftzug.
Unser Bierkutscher war bereits in der Diele am Fluchen, weil er seine Schlüssel nicht fand.
Er versah seinen Dienst, ohne ein Wort zu sagen, muckte nicht auf, als der Chef ihm den Topf aus der Hand nahm, um sich aufzuspielen, biß die Zähne zusammen, als ein Entenbrustfilet, das nicht richtig durch war, zu ihm zurückkam, rieb an seiner Kochplatte herum, als wollte er Eisenspäne gewinnen.
Die Küche leerte sich, und er wartete in einer Ecke, bis sein Kumpel Kermadec die Tischdecken sortiert und die Servietten gezählt hatte. Als dieser ihn in der Ecke sitzen und in seiner Motorradzeitschrift blättern sah, fragte er mit einer Kopfbewegung:
»Worauf wartet er noch, unser Küchenbulle?«
Lestafier warf den Kopf in den Nacken und hielt den Daumen vor den Mund.
»Ich komme. Drei Sachen noch, dann bin ich ganz für dich da …«
Sie hatten vor, auf Sauftour zu gehen, aber Franck war schon nach der zweiten Kneipe sturzbetrunken.
In dieser Nacht fiel er in ein Loch, nicht das Loch seiner Kindheit. Ein anderes.
18
»Na ja, ich wollte gerne … Bitte entschuldigen Sie mich. Das heißt, ich wollte Sie bitten …«
»Was denn, mein Junge?«
»Mir zu verzeihen.«
»Ich habe dir schon verziehen, du. Das hast du so nicht gemeint, das weiß ich, du solltest aber trotzdem aufpassen … Weißt du, man muß den Leuten, die einen korrekt behandeln, mit Respekt begegnen. Du wirst schon sehen, wenn du älter wirst, daß dir davon nicht so viele über den Weg laufen …«
»Wissen Sie, ich habe über das nachgedacht, was Sie mir gestern gesagt haben, und auch wenn es mir die Zunge versengt, Ihnen das zu sagen, weiß ich genau, daß Sie recht haben.«
»Natürlich habe ich recht. Ich kenne doch die Alten, ich sehe sie hier den ganzen Tag.«
»Dann äh …«
»Was?«
»Das Problem ist, ich habe nicht die Zeit, mich darum zu kümmern, ich meine, einen Platz zu finden und all das.«
»Willst du, daß ich das übernehme?«
»Ich kann Ihnen die Stunden bezahlen, wissen Sie.«
»Jetzt fang nicht wieder an, mich zu beleidigen, du Dummerchen, ich will dir gerne helfen, aber du mußt es ihr sagen. Du mußt ihr die Situation erklären.«
»Kommen Sie mit?«
»Das will ich gern, wenn es dir hilft, aber weißt du, was ich davon halte, weiß sie genau. Seit ich sie bearbeite …«
»Wir müssen unbedingt etwas Hochwertiges für sie finden. Ein schönes Zimmer und einen großen Park vor allem …«
»Das ist sehr teuer, das weißt du …«
»Wie teuer?«
»Über zehntausend im Monat.«
»Eh … Moment mal, Madame Carminot, wovon sprechen Sie da? Wir haben jetzt den Euro …«
»Ach, der Euro. Ich rechne, wie ich immer gerechnet habe, und für ein gutes Heim muß man mit mehr als zehntausend Franc im Monat rechnen.«
»…«
»Franck?«
»Das ist … Das ist das, was ich verdiene.«
»Du mußt zum Sozialamt gehen und Wohngeld beantragen, prüfen lassen, was die Rente deines Großvaters bringt, und sie dann bei der APA registrieren lassen …«
»Was ist denn eine Appa?«
»Das ist eine Anlaufstelle für Pflegefälle und Behinderte.«
»Aber … Sie ist doch nicht wirklich behindert, oder?«
»Nein, aber sie muß eben mitspielen, wenn die ihr einen Gutachter vorbeischicken. Es darf nicht so aussehen, als würde sie noch alles mitkriegen, sonst gibt’s nicht viel …«
»Oh, Scheiße Mann, was für ein Mist … Pardon.«
»Ich halte mir die Ohren zu.«
»Ich habe keine Zeit, diese ganzen Papiere auszufüllen … Wollen Sie die Lage für mich ein wenig sondieren?«
»Mach dir keine Sorgen, ich werde das Thema am nächsten Freitag im Club ansprechen, ich bin sicher, daß ich einiges rauskriege!«
»Ich danke Ihnen, Madame Carminot …«
»Schon gut. Das ist doch das mindeste, oder?«
»Gut, okay, ich muß jetzt zur Arbeit …«
»Du bist ja mittlerweile ein richtiger Meisterkoch!«
»Wer sagt das?«
»Madame Mandel.«
»Aha.«
»Ja, ja, wenn du wüßtest. Sie schwärmt noch heute davon! Du hast ihnen einmal einen fürstlichen Hasen vorgesetzt.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Aber sie weiß es noch, das kannst du mir glauben! Sag mal, Franck?«
»Ja?«
»Ich weiß zwar, daß es mich nichts angeht, aber … deine Mutter?«
»Was ist mit meiner Mutter?«
»Ich weiß nicht, aber ich habe überlegt, ob man sie nicht auch informieren sollte. Sie könnte dir vielleicht bei der Finanzierung helfen.«
»Wer beleidigt hier jetzt wen, Yvonne, dabei sollten Sie sie gut genug kennen.«
»Menschen können sich ändern, weißt du …«
»Sie nicht.«
»…«
»Nein. Sie nicht … Okay, ich muß los, ich bin spät dran …«
»Auf Wiederhören, mein Junge.«
»Eh …?«
»Ja?«
»Versuchen Sie trotzdem, etwas Billigeres zu finden …«
»Ich will mal sehen, ich sage dir Bescheid.«
»Danke.«
Es war so kalt an diesem Tag, daß Franck froh war über die Hitze in der Küche und seine Sträflingsarbeit. Der Chef war gut gelaunt. Sie hatten wieder Leute abweisen müssen, und er hatte gerade erfahren, daß er in einer Lifestyle-Zeitschrift eine gute Besprechung bekommen würde.
»Bei diesem Wetter, Jungs, werden wir heute Gänseleber umsetzen und den besten Wein ausschenken! Das war’s jetzt mit Salaten, leichter Kost und dem ganzen Mist! Schluß damit! Ich will es schön, ich will es gut, und ich will, daß die Gäste um zehn Grad wärmer hier rausgehen! Los jetzt, Männer! Schmeißt das Feuer an!«
19
Camille hatte Mühe, die Treppe hinunterzugelangen. Sie hatte fürchterliche Gliederschmerzen und eine heftige Migräne. Als hätte ihr jemand ein Messer ins rechte Auge gerammt und machte sich einen Spaß daraus, die Klinge bei jeder Bewegung ein wenig zu drehen. Unten angekommen, hielt sie sich an der Wand fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie schlotterte, sie bekam keine Luft. Sie dachte einen Augenblick daran, umzukehren und sich hinzulegen, aber die Vorstellung, die sieben Stockwerke wieder hinaufzusteigen, schien ihr noch unausführbarer, als zur Arbeit zu gehen. In der Metro würde sie sich wenigstens setzen können.
Als sie die Eingangshalle durchquerte, stieß sie gegen einen Bären. Es war ihr Nachbar, im langen Pelzmantel.
»Oh, Pardon Monsieur«, entschuldigte er sich, »ich …«
Er sah auf.
»Camille, sind Sie’s?«
Da sie nicht die Kraft für den geringsten Plausch aufbrachte, schlüpfte sie unter seinem Arm hindurch.
»Camille! Camille!«
Sie vergrub die Nase in ihrem Schal und beschleunigte ihre Schritte. Diese Anstrengung zwang sie bald, sich auf einen Parkscheinautomaten zu stützen, um nicht zu fallen.
»Camille, alles in Ordnung? Mein Gott, aber … Was haben Sie denn mit Ihren Haaren gemacht? Oh, wie krank Sie aussehen, haben Sie … Sie sehen ganz krank aus! Und Ihre Haare? Ihre wunderschönen Haare.«
»Ich muß los, ich bin schon spät dran.«
»Aber es ist klirrend kalt, meine Liebe! Gehen Sie nicht ohne Kopfbedeckung, Sie holen sich den Tod. Hier, nehmen Sie wenigstens meine Kosakenmütze.«
Camille rang sich ein Lächeln ab.
»Hat die auch Ihrem Onkel gehört?«
»Teufel, nein! Eher meinem Urgroßvater, der den kleinen General auf seinen Rußlandfeldzügen begleitet hat.«
Er zog ihr die Mütze bis zu den Augenbrauen herunter.
»Sie wollen behaupten, dieses Stück hier hätte Austerlitz mitgemacht?« mühte sie sich zu scherzen.
»Aber gewiß! Auch Beresina, leider … Aber Sie sind ganz blaß. Sind Sie sicher, daß es Ihnen gutgeht?«
»Ich bin ein bißchen müde.«
»Sagen Sie, Camille, ist Ihnen da oben nicht zu kalt?«
»Ich weiß nicht. Okay, ich … Ich muß los. Danke für die Mütze.«
Eingelullt von der Hitze in der Metro schlief sie ein und wachte erst an der Endstation wieder auf. Sie setzte sich in den Gegenzug und zog sich die Bärenmütze über die Augen, um vor Erschöpfung heulen zu können. Puh, dieses alte Ding stank fürchterlich.
Als sie endlich an der richtigen Haltestelle ausstieg, war die Kälte, die sie umfing, so schneidend, daß sie sich in das Wartehäuschen einer Bushaltestelle setzen mußte. Sie legte sich quer über die Sitze und bat den jungen Mann neben sich, ihr ein Taxi zu besorgen.
Sie kroch auf Knien in ihr Zimmer und fiel in voller Länge auf die Matratze. Sie hatte nicht die Kraft, sich auszuziehen, und dachte eine Sekunde lang, sie würde auf der Stelle sterben. Wer würde es erfahren? Wen würde es kümmern? Wer würde um sie weinen? Sie zitterte vor innerer Hitze, und der Schweiß hüllte sie in ein eisiges Leichentuch.
20
Philibert stand gegen zwei Uhr nachts auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Die Fliesen in der Küche waren eiskalt, und der Wind drückte heftig gegen die Fensterscheiben. Einen Moment lang betrachtete er die verlassene Straße und murmelte Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit vor sich hin. Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden … Das Außenthermometer zeigte minus sechs Grad, und er konnte nicht umhin, an das kleine Persönchen da oben zu denken. Schlief sie? Und was hatte sie mit ihren Haaren gemacht, die Unglückliche?
Er mußte etwas tun. Er konnte sie nicht allein lassen. Ja, aber seine Erziehung, seine guten Manieren, nicht zuletzt seine Diskretion verwickelten ihn in endlose Debatten.
War es schicklich, eine junge Frau mitten in der Nacht zu stören? Wie würde sie reagieren? Und außerdem, vielleicht war sie gar nicht allein, wer weiß? Und wenn sie nackt war? Oh, nein. Daran wollte er lieber nicht denken. Und wie bei Tim und Struppi stritten sich Engel und Teufel auf dem Kopfkissen nebenan.
Das heißt, die Personen waren nicht ganz dieselben.
Ein durchgefrorener Engel sagte: »Aber sie stirbt den Erfrierungstod, die Kleine«, der andere, mit eingefalteten Flügeln, gab zurück: »Ich weiß, mein Lieber, aber das tut man nicht. Sie erkundigen sich morgen früh nach ihrem Befinden. Schlafen Sie jetzt, ich bitte Sie.«
Er wohnte ihrem Streit bei, ohne sich daran zu beteiligen, drehte sich zehnmal um, zwanzigmal, bat um Ruhe und raubte ihnen am Ende das Kopfkissen, um sie nicht mehr hören zu müssen.
Um drei Uhr vierundfünfzig suchte er im Dunkeln nach seinen Socken.
Der Lichtstrahl unter ihrer Tür machte ihm Mut.
»Mademoiselle Camille?«
Dann, nur wenig lauter:
»Camille? Camille? Ich bin’s, Philibert.«
Keine Antwort. Er versuchte es ein letztes Mal, bevor er kehrtmachte. Als er schon am Ende des Flurs angelangt war, hörte er einen gedämpften Laut.
»Camille, sind Sie da? Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht und ich … Ich …«
»… Tür … offen …« stöhnte sie.
Die Dachkammer war eiskalt. Er kam kaum durch die Tür, wegen der Matratze, und stolperte über einen Haufen Tücher. Er kniete sich hin. Hob eine Decke hoch, dann eine zweite, dann eine Steppdecke und stieß schließlich auf ihr Gesicht. Sie war triefnaß.
Er legte ihr die Hand auf die Stirn:
»Sie glühen ja wie vor Fieber! So können Sie nicht bleiben. Nicht hier. Nicht ganz allein. Und Ihr Kamin?«
»… keine Kraft, ihn zu verrücken …«
»Erlauben Sie, daß ich Sie mit zu mir nehme?«
»Wohin?«
»Zu mir.«
»Will mich nicht bewegen.«
»Ich werde Sie tragen.«
»Wie ein Märchenprinz?«
Er lächelte sie an:
»Oje, oje, Sie befinden sich ja schon im Fieberwahn.«
Er schob die Matratze mitten ins Zimmer, zog ihr die schweren Schuhe aus und hob sie so behutsam wie möglich hoch.
»Leider bin ich nicht so stark wie ein richtiger Prinz … Hm … Könnten Sie vielleicht versuchen, Ihren Arm um meinen Hals zu legen?«
Sie ließ den Kopf auf seine Schulter fallen, und der säuerliche Geruch, der von ihrem Nacken aufstieg, verwirrte ihn.
Die Entführung verlief katastrophal. Er stieß mit seiner Schönen an den Ecken an und fiel bei jeder Stufe fast hin. Zum Glück hatte er daran gedacht, den Schlüssel zum Hintereingang mitzunehmen, und brauchte nur drei Stockwerke zu bewältigen. Er durchquerte das Mägdezimmer, die Küche, ließ sie im Flur fast zehnmal fallen und legte sie schließlich auf das Bett seiner Tante Edmée.
»Hören Sie, ich muß Sie ein wenig entblößen, fürchte ich. Ich … Na ja, Sie … Na ja, eine ziemlich mißliche Lage, oder?«
Sie hatte die Augen geschlossen.
Gut.
Philibert Marquet de La Durbellière befand sich jetzt in einer äußerst prekären Situation.
Er dachte an die Großtaten seiner Vorfahren, aber der Nationalkonvent von 1793, die Einnahme von Cholet, Cathelineaus Mut und La Rochejaqueleins Tapferkeit kamen ihm mit einem Mal ganz nichtig vor.
Der erzürnte Engel saß jetzt auf seiner Schulter, das Benimmbuch der Baronin Staff unterm Arm. Er kam nun richtig in Fahrt: »Na, mein Freund, jetzt sind Sie zufrieden mit sich, nicht wahr? Ah! Er fühlt sich gut, unser wackerer Recke! Herzlichen Glückwunsch, wirklich. Und nun? Was machen wir nun?« Philibert war völlig durcheinander. Camille flüsterte:
»… Durst …«
Ihr Retter stürzte in die Küche, doch der andere Miesmacher erwartete ihn auf dem Rand des Spülbeckens: »Aber ja! Machen Sie weiter. Und der Drachen? Wollen Sie nicht auch noch gegen den Drachen kämpfen?« »Ach, halt die Klappe!« antwortete Philibert. Er konnte es gar nicht fassen und eilte leichteren Herzens zurück ans Bett der Kranken. Letztendlich war es gar nicht so schwer. Franck hatte recht: Mitunter brachte einmal Fluchen mehr als langes Reden. Entsprechend aufgebaut gab er ihr zu trinken und faßte sich ein Herz: Er zog sie aus.
Es war nicht einfach, denn sie trug mehr Lagen als eine Zwiebel. Er zog ihr zuerst den Mantel aus, dann die Jeansjacke. Anschließend kam der Pullover, dann ein zweiter, ein Rollkragenpulli und schließlich eine Art langärmliges Hemd. Nun ja, sagte er sich, ich kann es ihr nicht anlassen, es läßt sich ja fast auswringen. Sei’s drum, ich werde ihren … na ja, ihren Büstenha… Oh Schreck! Bei allen Heiligen im Himmel! Sie trug überhaupt keinen! Schnell, er schlug die Decke über ihren Oberkörper. Gut. Jetzt den unteren Teil. Hierbei fühlte er sich wohler, weil er sich unter der Decke vortasten konnte. Er zog mit aller Kraft an den Hosenbeinen. Gottlob, das Höschen kam nicht mit.
»Camille? Haben Sie die Kraft unter die Dusche zu steigen?«
Keine Antwort.
Er schüttelte mißbilligend den Kopf, ging ins Badezimmer, füllte einen Krug mit heißem Wasser, in den er etwas Eau de Cologne träufelte, und bewaffnete sich mit einem Waschlappen.
Nur Mut, Soldat!
Er schlug die Decke zurück und erfrischte sie zunächst vorsichtig mit dem Waschlappen, dann etwas beherzter.
Er rieb den Kopf, den Hals, das Gesicht, den Rücken, die Achseln, die Brüste ab, weil er mußte, und konnte man das hier überhaupt Brüste nennen? Den Bauch und die Beine. Den Rest, meine Güte, das mußte sie selbst sehen. Er wrang den Waschlappen aus und legte ihn ihr auf die Stirn.
Jetzt brauchte sie ein Aspirin. Er zog so fest an der Küchenschublade, daß sich der gesamte Inhalt auf den Boden entlud. Zum Teufel. Aspirin, Aspirin …
Franck stand in der Tür, den Arm unterm T-Shirt, und kratzte sich den Bauch:
»Huuuaaa«, gähnte er, »was ist hier los? Was soll die Sauerei?«
»Ich suche Aspirin.«
»Im Schrank.«
»Danke.«
»Brummt dir der Schädel?«
»Nein, es ist für eine Freundin.«
»Die Kleine aus dem siebten Stock?«
»Ja.«
Franck feixte:
»Moment mal, warst du grad bei ihr? Da oben?«
»Ja. Laß mich bitte durch.«
»Hör auf, das glaub ich nicht … Dann bist du gar nicht mehr Jungfrau!«
Seine sarkastischen Sprüche folgten ihm bis in den Flur:
»Und? Zieht Sie gleich am ersten Abend die Nummer mit der Migräne ab, ehrlich? Scheiße, das fängt nicht gut an, Junge.«
Philibert schloß die Tür hinter sich, drehte sich um und flüsterte deutlich hörbar: »Halt die Klappe, du.«
Er wartete, bis die Tablette alle Bläschen abgegeben hatte, dann störte er sie ein letztes Mal. Er meinte, sie »Papa …« flüstern zu hören. Es sei denn, sie wollte sagen »Pa… Passe«, weil sie vermutlich keinen Durst mehr hatte. Er wußte es nicht.
Er befeuchtete erneut den Waschlappen, deckte sie ganz zu und verharrte einen Moment.
Sprachlos, entsetzt und stolz.
Ja, stolz.
21
Camille wurde von U2 geweckt. Sie glaubte zuerst bei den Kesslers zu sein und nickte noch einmal ein. Nein, dachte sie wirr, nein, das war nicht möglich … Weder Pierre noch Mathilde noch ihr Dienstmädchen würden Bono so laut aufdrehen. Irgend etwas stimmte nicht. Sie öffnete langsam die Augen, stöhnte über ihren Brummschädel und wartete im Halbdunkel darauf, etwas erkennen zu können.
Wo war sie bloß? Was war …?
Sie drehte den Kopf. Ihr ganzer Körper sträubte sich. Die Muskeln, die Gelenke und das bißchen Fleisch, das sie auf den Rippen hatte, versagten ihr den Dienst. Sie biß die Zähne zusammen und richtete sich ein paar Zentimeter auf. Sie fröstelte und war erneut schweißgebadet.
Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Sie wartete einen Moment, unbeweglich, die Augen geschlossen, bis der Schmerz nachließ.
Sie öffnete die Augen zu kleinen Schlitzen und stellte fest, daß sie in einem seltsamen Bett lag. Das Tageslicht drang kaum durch die Zwischenräume der Jalousien, und riesige Samtvorhänge, die sich halb von der Stange gelöst hatten, hingen an beiden Enden jämmerlich herab. Ihr gegenüber befand sich ein Kamin aus Marmor, darüber ein mit blinden Flecken übersäter Spiegel. Das Zimmer war mit einem geblümten Stoff tapeziert, dessen Farben sie nicht genau erkennen konnte. Überall hingen Gemälde. Porträts von schwarzgekleideten Männern und Frauen, die über ihre Anwesenheit ebenso erstaunt zu sein schienen wie sie. Nun wandte sie sich dem Nachttisch zu und erblickte eine wunderschöne, mit Gravuren versehene Karaffe neben einem Senfglas von Scooby Doo. Sie war kurz vorm Verdursten, und die Karaffe war voll Wasser, aber sie traute sich nicht, davon zu trinken: In welchem Jahrhundert war sie gefüllt worden?
Gute Güte, wo war sie bloß, und wer hatte sie in dieses Museum gebracht?
Ein Blatt Papier lehnte gefaltet an einem Kerzenständer: »Ich habe nicht gewagt, Sie heute morgen zu wecken. Ich bin zur Arbeit gegangen und komme gegen sieben Uhr zurück. Ihre Kleider liegen über dem Lehnstuhl. Im Kühlschrank ist etwas Ente, und am Fußende steht eine Flasche Mineralwasser. Philibert.«
Philibert? Was machte sie nur im Bett dieses Jungen?
Hilfe.
Sie konzentrierte sich, um Fetzen der Erinnerung an unwahrscheinliche nächtliche Ausschweifungen heraufzubeschwören, doch ihre Erinnerungen gingen nicht über den Boulevard Brune hinaus. Sie saß zusammengekrümmt an einer Bushaltestelle und flehte einen großen Typen im dunklen Mantel an, ein Taxi für sie anzuhalten. War es Philibert? Nein, und doch … Nein, er war es nicht, daran würde sie sich erinnern.
Jemand hatte die Musik abgestellt. Sie hörte Schritte, ein Grunzen, eine Tür, die zufiel, eine zweite, dann nichts mehr. Stille.
Sie mußte dringend wohin, wartete aber noch einen Moment, horchte auf jedes erdenkliche Geräusch und war schon von dem Gedanken erschöpft, ihr armes Gerippe zu bewegen.
Sie schob die Decke weg und schlug die Steppdecke zurück, die ihr schwer vorkam wie ein toter Esel.
Als sie die Füße auf den Holzfußboden setzte, krümmten sich die Zehen. Zwei Hausschuhe aus Ziegenleder erwarteten sie an der Teppichkante. Sie stand auf, sah, daß sie das Oberteil eines Männerpyjamas trug, schlüpfte in die Hausschuhe und legte sich die Jeansjacke um die Schultern.
Vorsichtig drehte sie am Türknauf und fand sich in einem riesigen, ziemlich dunklen Flur von mindestens fünfzehn Metern Länge wieder.
Sie machte sich auf die Suche nach der Toilette.
Nein, das hier war ein Schrank, hier ein Kinderbett mit einem Doppelbett und einem von Motten zerfressenen Schaukelpferd. Hier … Keine Ahnung … Ein Büro vielleicht? Auf einem Tisch am Fenster lagen so viele Bücher, daß das Tageslicht kaum noch durchdrang. Ein Säbel und eine weiße Schärpe hingen an der Wand, desgleichen ein Pferdeschweif, der an einem Messingring befestigt war. Ein echter Schweif von einem echten Pferd. Eine äußerst seltsame Reliquie.
Hier! Die Toilette!
Der Klodeckel war aus Holz, ebenso der Griff der Wasserspülung. Die Kloschüssel mußte angesichts ihres Alters schon Generationen von unter Reifröcken versteckten Pobacken gesehen haben. Camille zögerte zunächst, aber nein, alles funktionierte bestens. Das Rauschen der Wasserspülung war verwirrend. Als würden die Niagarafälle auf ihrem Kopf niedergehen.
Ihr war schwindlig, doch sie setzte ihren Rundgang auf der Suche nach einer Schachtel Aspirin fort. Sie betrat ein Zimmer, in dem unbeschreibliches Chaos herrschte. Überall lagen Kleider herum, inmitten von Zeitschriften, leeren Bierflaschen und losen Blättern: Lohnzettel, küchentechnische Daten, Wartungshinweise für eine GSX-R sowie verschiedene Mahnungen vom Finanzamt. Auf dem hübschen Bett im Stil Ludwig XVI. lag eine häßliche buntgescheckte Decke, und Kifferutensilien warteten auf den feinen Intarsien des Nachttischs auf ihren Einsatz. Also, hier roch es nach Raubtier.
Die Küche befand sich am Ende des Flurs. Ein kalter Raum, grau und trist, mit alten, blassen Fliesen, akzentuiert von schwarzem Cabochon. Die Arbeitsflächen waren aus Marmor, die Schränke fast alle leer. Nichts außer der geräuschvollen Präsenz eines antiken Kühlschranks wies darauf hin, daß hier Menschen lebten …
Sie fand das Röhrchen mit den Tabletten, holte sich ein Glas neben der Spüle und setzte sich auf einen Resopalstuhl. Die Decke war schwindelerregend hoch, und die weißen Wände faszinierten sie. Es mußte ziemlich alte Farbe sein, auf Bleibasis, und die Jahre hatten ihr eine samtglänzende Patina verliehen. Weder perlweiß noch eierschalen, eher das Weiß von Milchreis oder den faden Nachtischen einer Kantine … Sie ging im Geiste einige Mischfarben durch und nahm sich vor, irgendwann mit zwei oder drei Tuben wiederzukehren, um die Farbe besser bestimmen zu können. Sie verirrte sich in der Wohnung und fürchtete, ihr Zimmer nicht wiederzufinden. Sie sank aufs Bett, dachte einen Moment daran, die Klatschbase von Proclean anzurufen, und schlief sofort wieder ein.
22
»Alles in Ordnung?«
»Sind Sie es, Philibert?«
»Ja.«
»Liege ich in Ihrem Bett?«
»In meinem Bett? Aber, aber … Aber nein, also … Niemals würde ich …«
»Wo bin ich?«
»In den Gemächern meiner Tante Edmée, Tante Mée für die engeren Familienangehörigen. Wie fühlen Sie sich, meine Liebe?«
»Erschöpft. Mir ist, als hätte mich eine Dampfwalze überrollt.«
»Ich habe einen Arzt angerufen.«
»Oh nein, das ist nicht nötig!«
»Nicht nötig?«
»Oh … Oder doch. Das war eine gute Idee. Ich brauche auf jeden Fall einen Krankenschein.«
»Ich habe eine Suppe aufgesetzt.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie werden sich zwingen. Wir müssen Sie wieder aufpäppeln, sonst ist Ihr Körper zu schwach, um den Virus abzuwehren und zurückzutreiben. Warum lachen Sie?«
»Weil Sie so reden, als befänden wir uns im Hundertjährigen Krieg.«
»Dies dauert hoffentlich nicht so lang! … Ah, hören Sie? Das ist bestimmt der Arzt«
»Philibert?«
»Ja?«
»Ich habe nichts hier … Keine Schecks, kein Geld, nichts …«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Das klären wir später … Bei den Friedensverträgen.«
23
»Und?«
»Sie schläft.«
»Ja?«
»Ist sie mit Ihnen verwandt?«
»Eine Freundin.«
»Was für eine Freundin?«
»Na ja, sie ist … eh … eine Nachbarin, das heißt ei… eine befreundete Nachbarin«, verhedderte sich Philibert.
»Kennen Sie sie gut?«
»Nein. Nicht so gut.«
»Lebt sie allein?«
»Ja.«
Der Arzt verzog das Gesicht.
»Machen Sie sich Sorgen?«
»Das kann man so sagen. Haben Sie hier einen Tisch? Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«
Philibert führte ihn in die Küche. Der Arzt holte seinen Rezeptblock heraus.
»Kennen Sie ihren Namen?«
»Fauque, glaube ich.«
»Glauben Sie, oder sind Sie sich sicher?«
»Ihr Alter?«
»Sechsundzwanzig.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Arbeitet sie?«
»Ja, in einer Reinigungsfirma.«
»Pardon?«
»Sie putzt Büros.«
»Sprechen wir von derselben? Von der jungen Frau in dem großen polnischen Bett am Ende des Flurs?«
»Ja.«
»Kennen Sie Ihre Arbeitszeiten?«
»Sie arbeitet nachts.«
»Nachts?«
»Na ja, abends, wenn die Büros leer sind.«
»Sie wirken verstimmt?« Philibert wagte einen Vorstoß.
»Das bin ich auch. Sie ist entkräftet, Ihre Freundin. Völlig entkräftet. Ist Ihnen das aufgefallen?«
»Nein, das heißt, doch. Ich habe schon gesehen, daß sie nicht gut aussieht, aber ich … Na ja, ich kenne sie nicht so gut, wissen Sie, ich … Ich habe sie letzte Nacht nur geholt, weil sie keine Heizung hat und weil …«
»Hören Sie, ich will ganz offen mit Ihnen sein: Bei ihrer Blutarmut, ihrem Gewicht und ihrem Blutdruck könnte ich sie auf der Stelle ins Krankenhaus einweisen, nur, als ich diese Möglichkeit ansprach, hat sie so panisch reagiert, daß … Na ja, ich habe keine Akte vorliegen, verstehen Sie? Ich kenne ihre Vorgeschichte nicht, und ich will nichts überstürzen, aber wenn es ihr bessergeht, sollte sie sich einer Reihe von Untersuchungen unterziehen, das steht fest.«
Philibert rang verzweifelt die Hände.
»Eins ist sicher: Bis dahin sollten Sie sie aufpäppeln. Sie müssen sie unbedingt dazu anhalten zu essen und zu schlafen, sonst … Gut, ich schreibe sie für zehn Tage krank. Das hier ist für eine Packung Paracetamol und Vitamin C, aber ich wiederhole noch mal: Das alles ersetzt kein ordentliches Rippchen, keinen Teller Nudeln, Gemüse und frisches Obst, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Hat sie Verwandte in Paris?«
»Ich weiß es nicht. Und das Fieber?«
»Eine saftige Grippe. Da ist nichts zu machen. Warten, bis sie vorbeigeht. Achten Sie darauf, daß sie sich nicht zu warm zudeckt, vermeiden Sie Zugluft, und sorgen Sie dafür, daß sie ein paar Tage das Bett hütet.«
»Gut.«
»Jetzt sehen Sie allerdings etwas besorgt aus! Vielleicht habe ich die Situation etwas zu schwarz gemalt, aber … eigentlich nicht. Sie passen gut auf, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sagen Sie, ist das Ihre Wohnung?«
»Eh, ja.«
»Wieviel Quadratmeter sind das insgesamt?«
»Etwas mehr als dreihundert.«
»Nicht schlecht!« Der Arzt stieß einen leisen Pfiff aus, »ich mag Ihnen vielleicht indiskret vorkommen, aber was machen Sie beruflich?«
»Arche Noah.«
»Pardon?«
»Ach, nichts. Was bin ich Ihnen schuldig?«
24
»Camille, schlafen Sie?«
»Nein.«
»Schauen Sie, ich habe eine Überraschung für Sie.«
Er machte die Tür auf und schob ihren künstlichen Kamin herein.
»Ich habe mir gedacht, daß Sie sich darüber freuen …«
»Oh … Das ist nett, aber ich werde nicht hier bleiben, wissen Sie? Ich gehe morgen wieder nach oben.«
»Nein.«
»Wie, nein?«
»Sie gehen nach oben, wenn das Barometer steigt, bis dahin bleiben Sie hier und ruhen sich aus, das hat der Arzt verordnet. Er hat Sie außerdem für zehn Tage krankgeschrieben.«
»So lange?«
»Aber ja.«
»Ich muß ihn verschicken.«
»Pardon?«
»Den Krankenschein.«
»Ich besorge Ihnen einen Briefumschlag.«
»Nein, aber … So lange will ich nicht bleiben, ich … Das will ich nicht.«
»Möchten Sie lieber ins Krankenhaus?«
»Mit so was spaßt man nicht.«
»Ich spaße nicht, Camille.«
Sie fing an zu weinen.
»Sie werden sie davon abhalten, nicht wahr?«
»Erinnern Sie sich an den Aufstand der Vendée?«
»Eh … Nicht so richtig, nein.«
»Ich werde Ihnen ein paar Bücher leihen. In der Zwischenzeit sollten Sie nicht vergessen, daß Sie bei den Marquet de la Durbellière sind und daß wir hier die Blauen nicht fürchten!«
»Die Blauen?«
»Die Republik. Sie wollen Sie in ein staatliches Krankenhaus stecken, nicht wahr?«
»Bestimmt …«
»Sie haben nichts zu befürchten. Ich werde siedendheißes Öl auf die Krankenträger gießen, wenn sie durch das Treppenhaus kommen!«
»Sie sind ja total übergeschnappt.«
»Das sind wir doch alle ein bißchen, oder? Warum haben Sie sich zum Beispiel den Kopf rasiert?«
»Weil ich nicht mehr die Kraft hatte, mir die Haare auf dem Treppenabsatz zu waschen.«
»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen von Diane de Poitiers erzählt habe?«
»Ja.«
»Tja, ich habe gerade etwas über sie in meiner Bibliothek gefunden, warten Sie …«
Er kam mit einem abgegriffenen Taschenbuch zurück, setzte sich zu ihr ans Bett und räusperte sich:
»Der ganze Hofstaat – außer Madame d’Étampes natürlich (ich sagen Ihnen gleich, warum) – war sich darin einig, daß sie wunderschön war. Man ahmte ihren Gang, ihre Gesten, ihre Frisuren nach. Sie diente im übrigen dazu, den Schönheitskanon zu bilden, dem sich alle Frauen über hundert Jahre um jeden Preis anzunähern suchten:
Drei weiße Dinge: die Haut, die Zähne, die Hände.
Drei schwarze: die Augen, die Brauen, die Wimpern.
Drei rote: die Lippen, die Wangen, die Fingernägel.
Drei lange: der Körper, die Haare, die Hände.
Drei kurze: die Zähne, die Ohren, die Füße.
Drei schmale: der Mund, die Taille, der Knöchel.
Drei dicke: die Arme, die Oberschenkel, die Waden.
Drei kleine: die Brustwarze, die Nase, der Kopf.
Das ist schön gesagt, nicht wahr?«
»Und Sie finden, ich würde ihr ähneln?«
»Ja, das heißt, in manchen Punkten.«
Er war rot wie eine Tomate.
»Ni… nicht in allen natürlich, aber wissen S… Sie, es ist eine Frage des Auftretens, der An… Anmut, der … der …«
»Haben Sie mir die Kleider ausgezogen?«
Seine Brille war ihr in den Schoß gefallen, und er fing an zu sto… stottern wie nie zuvor.
»Ich … ich … Ja, na ja, ich … ich … Ganz keu… keusch, ich schwö… schwöre es Ihnen, ich habe Sie zu… zuerst zuge… zugedeckt, ich …«
Sie hielt ihm die Brille hin.
»He, ganz ruhig, regen Sie sich nicht so auf! Ich wollte es nur wissen, mehr nicht … Hm … ar denn der andere dabei?«
»W… wer denn?«
»Der Koch.«
»Nein. Natürlich nicht, ich bitte Sie …«
»Das ist mir auch lieber so. Aaaah! Ich habe solche Kopfschmerzen.«
»Ich gehe jetzt zur Apotheke. Brauchen Sie noch etwas anderes?«
»Nein. Danke.«
»Sehr schön. Ach so, das muß ich Ihnen noch sagen. Wir haben hier kein Telefon. Aber wenn Sie jemanden anrufen wollen, Franck hat in seinem Zimmer ein Handy und …«
»Ist okay, danke. Ich habe auch ein Handy. Ich muß nur mein Netzgerät von oben holen.«
»Das kann ich für Sie erledigen, wenn Sie wollen.«
»Nein, nein, das kann warten.«
»Meinetwegen.«
»Philibert?«
»Ja?«
»Danke.«
»Nicht doch.«
Er stand vor ihr, mit der zu kurzen Hose, der zu engen Jacke und den zu langen Ärmeln.
»Es ist das erste Mal seit langem, daß sich jemand so um mich kümmert.«
»Nicht doch.«
»Doch, das stimmt. Ich meine … ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Denn Sie … Sie erwarten keine Gegenleistung, oder?«
Er war empört:
»Aber nein, was d… denken Sie sich n… nur?«
Sie hatte schon wieder die Augen geschlossen.
»Ich denke mir gar nichts, ich sage es bloß: Ich habe nichts zu vergeben.«
25
Sie wußte nicht mehr, welcher Tag heute war. Samstag? Sonntag? Sie hatte seit Jahren nicht mehr so viel geschlafen.
Philibert war gerade dagewesen, um ihr einen Teller Suppe anzubieten.
»Ich stehe auf. Ich werde mich zu Ihnen in die Küche setzen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja doch! Ich bin schließlich nicht aus Zucker!«
»Einverstanden, aber kommen Sie nicht in die Küche, dort ist es zu kalt. Warten Sie lieber im blauen Salon auf mich.«
»Pardon?«
»Ach ja, es ist wahr. Was bin ich dumm! Er ist heute nicht mehr wirklich blau, seit er leer steht. Das Zimmer zur Diele hin, wissen Sie?«
»In dem das Kanapee steht?«
»Oh, Kanapee ist etwas übertrieben. Franck hat es eines Abends auf der Straße gefunden und mit einem seiner Freunde hier hochgetragen. Es ist sehr häßlich, aber bequem, wie ich zugeben muß.«
»Sagen Sie, Philibert, was ist das hier für eine Wohnung? Wem gehört sie eigentlich? Und warum wohnen Sie hier wie ein Hausbesetzer?«
»Pardon?«
»Als würden Sie nur vorübergehend hier wohnen?«
»Ach, das ist eine üble Erbschaftsgeschichte, leider. Wie es sie überall gibt. Sogar in den besten Familien, wissen Sie?«
Er wirkte aufrichtig verstimmt.
»Das hier ist die Wohnung meiner Großmutter mütterlicherseits, die letztes Jahr verstorben ist, und in Erwartung der Erbschaftsregelung hat mich mein Vater gebeten, mich hier einzuquartieren, um zu verhindern, daß die … Wie sagten Sie noch?«
»Die Hausbesetzer?«
»Genau, die Hausbesetzer! Aber nicht diese Drogenabhängigen mit Sicherheitsnadeln in der Nase, nein, sondern Leute, die viel besser angezogen und weitaus weniger elegant sind: unsere Vettern.«
»Ihre Vettern haben ein Auge auf diese Wohnung geworfen?«
»Ich glaube eher, daß sie das Geld schon ausgegeben haben, das sie hiermit zu verdienen hofften, die Ärmsten! Der Familienrat hat also beim Notar getagt, woraufhin ich zum Pförtner, Hauswart und zur Nachtwache erklärt wurde. Anfangs gab es natürlich ein paar Einschüchterungsversuche. Außerdem haben sich viele Möbel verflüchtigt, wie Sie gesehen haben, und ich habe häufig dem Gerichtsvollzieher die Tür geöffnet, aber alles scheint sich allmählich entspannt zu haben. Jetzt sind der Notar und die Rechtsanwälte gefragt, um diese lästige Angelegenheit zu regeln.«
»Wie lange sind Sie noch hier?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und Ihre Eltern lassen es zu, daß Sie Fremde hier beherbergen, wie den Koch und mich?«
»Was Sie angeht, brauchen sie es nicht zu erfahren, denke ich mir. Bei Franck waren sie eher erleichtert. Sie wissen, wie unbeholfen ich bin. Aber na ja, sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie es hier aussieht und … Zum Glück! Sie glauben, ich hätte ihn in der Kirchengemeinde kennengelernt!«
Er lachte.
»Haben Sie sie angelogen?«
»Sagen wir, ich war eher … ausweichend.«
Sie war so abgemagert, daß sie ihre Bluse in die Jeans stecken konnte, ohne den Knopf aufmachen zu müssen.
Sie sah aus wie ein Gespenst. Vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer zog sie eine Grimasse, um sich das Gegenteil zu beweisen, schlang sich einen Seidenschal um den Hals, streifte ihre Jacke über und wagte sich in das unglaubliche Hausmannsche Labyrinth.
Schließlich fand sie das scheußliche, durchgesessene Kanapee und machte eine Runde durch das Zimmer, bevor sie die mit Rauhreif bedeckten Bäume auf dem Champ-de-Mars erblickte.
Als sie sich umdrehte, ganz ruhig, nach wie vor etwas benebelt, die Hände in den Hosentaschen, fuhr sie zusammen und konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken.
Ein großer Typ in schwarzer Ledermontur, mit Stiefeln und Helm, stand direkt hinter ihr.
»Eh, guten Tag«, brachte sie schließlich heraus.
Ohne zu antworten, machte er auf dem Absatz kehrt.
Er nahm im Flur seinen Helm ab, fuhr sich durch die Haare und ging in die Küche:
»Sag mal, Philou, was ist denn das für ein warmer Bruder im Salon? Einer von deinen Pfadfinderbrüdern oder was?«
»Pardon?«
»Der Schwule hinter meinem Kanapee.«
Philibert, der ob des Ausmaßes seines kulinarischen Desasters schon hinreichend genervt war, büßte ein wenig seines aristokratischen Gleichmuts ein:
»Der Schwule, wie du sagst, heißt Camille«, korrigierte er ihn mit tonloser Stimme, »und ist meine Freundin. Ich darf dich bitten, dich wie ein Gentleman zu benehmen, ich habe nämlich die Absicht, sie für einige Zeit hier zu beherbergen.«
»He, ist ja schon gut. Reg dich nicht auf. Ein Mädchen, sagst du? Wir sprechen doch von demselben Knaben? Dem kleinen Dürren ohne Haare?«
»Das ist ein Mädchen, in der Tat.«
»Bist du sicher?«
Philibert schloß die Augen.
»Der ist deine Freundin? Ich meine, die? Sag mal, was kochst du ihr da? Haferschleim auf Russisch?«
»Das ist eine Suppe, stell dir vor.«
»Das hier? Eine Suppe?«
»Genau. Eine Kartoffellauchsuppe von Liebig.«
»Was für ein widerliches Zeug. Und außerdem hast du es anbrennen lassen, das wird fürchterlich schmecken. Was hast du denn da noch reingetan?« fragte er entsetzt, nachdem er den Deckel hochgehoben hatte.
»Nun … Schmelzkäse und Toastbrotwürfel.«
»Warum das denn?« fragte er beunruhigt.
»Der Arzt … Er hat mir aufgetragen, sie aufzupäppeln …«
»Tja, wenn du sie mit dem Zeug aufgepäppelt kriegst, Hut ab! In meinen Augen bringst du sie damit eher um.«
Daraufhin holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verzog sich in sein Zimmer.
Als sich Philibert zu seinem Schützling gesellte, war sie noch immer etwas außer Fassung:
»Ist er das?«
»Ja«, murmelte er und stellte das große Tablett auf einen Pappkarton.
»Setzt er seinen Helm nie ab?«
»Doch, aber wenn er montags abends nach Hause kommt, ist er immer widerwärtig. Normalerweise gehe ich ihm an diesem Tag aus dem Weg.«
»Hat er dann zuviel gearbeitet?«
»Eben nicht, montags arbeitet er nicht. Ich weiß nicht, was er macht. Er geht morgens früh aus dem Haus und kommt stets schlecht gelaunt zurück. Familiäre Probleme, glaube ich. Bitte sehr, greifen Sie zu, solange es noch warm ist.«
»Hm … as ist das?«
»Eine Suppe.«
»Ja?« sagte Camille und versuchte den seltsamen, unappetitlichen Brei umzurühren.
»Eine Suppe nach Art des Hauses … Eine Art Borschtsch, wenn Sie so wollen.«
»Aaah! Perfekt«, wiederholte sie lachend.
Auch diesmal wieder ein nervöses Lachen.
TEIL 2
1
»Hast du mal zwei Minuten? Wir müssen reden.«
Philibert trank zum Frühstück immer heiße Schokolade, und sein größtes Vergnügen bestand darin, das Gas abzudrehen, kurz bevor die Milch überkochte. Mehr als ein Ritual oder eine Manie war es sein täglicher kleiner Sieg. Sein Heldenstück, sein heimlicher Triumph. Die Milch fiel in sich zusammen, und der Tag konnte beginnen: Er hatte die Situation im Griff.
Doch an diesem Morgen, verunsichert oder überfahren vom Ton seines Mitbewohners, drehte er den falschen Knopf. Die Milch lief über, und ein unangenehmer Geruch verbreitete sich im Raum.
»Pardon?«
»Ich sagte: Wir müssen reden.«
»Reden wir«, antwortete Philibert ganz ruhig und weichte den Topf ein, »ich höre.«
»Wie lange bleibt sie hier?«
»Wie bitte?«
»Komm, tu nicht so! Dein Mäuschen? Wie lange bleibt sie noch hier?«
»Solange sie es wünscht …«
»Du bist in sie verknallt, stimmt’s?«
»Nein.«
»Lügner. Ich seh doch, welchen Zirkus du aufführst. Deine feinen Manieren, dein Burgherrengehabe und alles.«
»Bist du eifersüchtig?«
»Um Gottes willen! Das fehlte noch! Ich eifersüchtig auf einen Haufen Knochen? He, hier steht ja wohl nicht Abt Pierre drauf!« sagte er und zeigte auf seine Stirn.
»Nicht eifersüchtig auf mich, eifersüchtig auf sie. Möglicherweise fühlst du dich hier ein wenig bedrängt und hast keine Lust, deinen Zahnputzbecher einige Zentimeter weiter nach rechts zu schieben?«
»Er nun wieder, mit seinen großen Sprüchen. Jedesmal, wenn du den Schnabel aufmachst, klingt das so, als sollten deine Worte irgendwo aufgeschrieben werden, so toll hört es sich an.«
»…«
»Moment, ich weiß, das hier ist deine Wohnung, das weiß ich. Das ist nicht das Problem. Du lädst ein, wen immer du willst, du beherbergst, wen du willst, du machst hier auch die Suppenküche für Obdachlose, wenn du Bock drauf hast, aber Scheiße, Mann, ich weiß nicht … ir zwei waren doch ein gutes Team, oder?«
»Findest du?«
»Ja, finde ich. Okay, ich hab meinen Kopf und du hast deine bescheuerten Zwangsvorstellungen, deine Schrullen, deine Macken, aber insgesamt lief es bis heute doch ganz gut.«
»Und warum sollte sich das jetzt ändern?«
»Pfff … Da sieht man, daß du die Weiber nicht kennst. Keine Angst, ich sag das nicht, um dich zu beleidigen, okay? Aber es stimmt halt. Setz irgendwo ’ne Tussi hin, und sofort gibt’s Chaos, Alter. Alles wird kompliziert, alles wird nervig, und selbst deine besten Kumpels sind irgendwann eingeschnappt, weißt du? Was lachst du denn?«
»Wie du dich ausdrückst. Wie ein Cowboy. Ich wußte nicht, daß ich dein … dein Kumpel bin.«
»Okay, laß gut sein. Ich finde nur, du hättest es mir vorher sagen können, das ist alles.«
»Ich wollte es dir sagen.«
»Wann?«
»Hier, jetzt, über meinem Kakao, wenn du mir die Zeit gelassen hättest, ihn zuzubereiten.«
»Entschuldige mich. Das heißt, nein, Scheiße, du kannst mich nicht entschuldigen, stimmt’s?«
»Richtig.«
»Mußt du zur Arbeit?«
»Ja.«
»Ich auch. Beeil dich. Ich geb dir unten eine Schokolade aus.«
Als sie schon im Hof waren, spielte Franck seine letzte Karte aus:
»Außerdem wissen wir gar nicht, wer sie ist. Wir wissen nicht mal, wo die Kleine herkommt.«
»Ich will dir zeigen, wo sie herkommt. Komm mit.«
»Tzz … Glaub nicht, daß ich die sieben Etagen zu Fuß hochlatsche.«
»Doch, genau das glaube ich. Komm mit.«
Es war das erste Mal, seit sie sich kannten, daß Philibert ihn um etwas bat. Er schimpfte vor sich hin und folgte ihm zur Hintertreppe.
»Verflucht, ist das kalt hier drin!«
»Das ist noch gar nichts. Wart nur, bis wir unterm Dach sind.«
Philibert öffnete das Vorhängeschloß und stieß die Tür auf.
Franck sagte einige Sekunden lang gar nichts.
»Hier haust sie?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Komm, ich zeig dir noch etwas.«
Er führte ihn zum Ende des Flurs, stieß mit dem Fuß eine weitere klapprige Tür auf und fügte hinzu:
»Ihr Badezimmer. Unten das WC und darüber die Dusche. Du mußt zugeben, das ist genial.«
Schweigend gingen sie die Treppe hinunter.
Franck fand erst nach dem dritten Kaffee seine Stimme wieder:
»Okay, eine Sache nur. Du erklärst ihr genau meine Situation, wie wichtig es ist, daß ich nachmittags schlafe und so.«
»Ja, das werde ich ihr sagen. Wir können es ihr zusammen sagen. Aber in meinen Augen dürfte das gar kein Problem sein, sie wird nämlich auch schlafen.«
»Warum?«
»Sie arbeitet nachts.«
»Was macht sie denn?«
»Putzen.«
»Pardon?«
»Sie geht putzen.«
»Bist du sicher?«
»Weshalb sollte sie mich anlügen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie Callgirl.«
»Dann hätte sie doch mehr … mehr Rundungen, oder?«
»Jaaa, hast recht … He, bist ja doch nicht so blöd!« fügte er hinzu und gab ihm einen Klaps auf den Rücken.
»V… Vorsicht, jetzt … jetzt ist mir das Croissant aus der Hand gefallen, I… Idiot … Sieh nur, man könnte meinen, eine verendete Qualle.«
Franck scherte sich nicht darum, er las die Schlagzeilen des Parisien auf der Theke.
Sie schüttelten sich beide.
»Sag mal?«
»Was?«
»Hat sie keine Familie, die Tussi?«
»Weißt du«, antwortete Philibert und band seinen Schal, »dies ist eine Frage, die ich dir nie gestellt habe …«
Franck sah auf und lächelte ihn an.
An seinem Küchenherd angekommen, bat er seinen Kollegen, ihm etwas Brühe abzuzweigen.
»Verstanden?«
»Was?«
»Und richtig gute, hörst du?«
2
Camille hatte beschlossen, die halbe Tablette Lexotanil, die ihr der Arzt für den Abend verordnet hatte, nicht länger zu nehmen. Zum einen ertrug sie den halbkomatösen Zustand nicht mehr, in dem sie schwebte, zum anderen wollte sie auf keinen Fall riskieren, sich daran zu gewöhnen. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte sie die hysterische Angst ihrer Mutter miterlebt, ohne ihre Kapseln einschlafen zu müssen, und diese Anfälle hatten sie nachhaltig traumatisiert.
Sie war aus ihrem x-ten Mittagsschlaf aufgewacht, hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie spät es war, beschloß jedoch aufzustehen, sich einmal zu schütteln, sich endlich anzuziehen und wieder in ihr Zimmer zurückzukehren, um zu sehen, ob sie in der Lage war, ihr kleines Leben dort aufzunehmen, wo sie es zurückgelassen hatte.
Als sie auf dem Weg zur Hintertreppe durch die Küche lief, sah sie unter einer Flasche, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war, eine Nachricht.
In einem Topf aufwährmen, auf keinen fall zum Kochen bringen. Die Nudeln Hinzufügen und 4 Minuten Köcheln lassen, dabei ab und zu Umrühren.
Das war nicht Philiberts Handschrift.
Ihr Vorhängeschloß war aufgebrochen worden, und das wenige, was sie auf dieser Erde besaß, ihre letzten Bindungen, ihr kleines Königreich, war verwüstet worden.
Instinktiv stürzte sie sich auf den kleinen roten Koffer, der aufgeschlitzt auf dem Boden lag. Nein, alles in Ordnung, sie hatten nichts mitgenommen, ihre Zeichenmappen waren noch da.
Mit verzerrtem Gesicht und Übelkeit in der Kehle, fing sie an, ein wenig aufzuräumen, um zu sehen, was fehlte.
Es fehlte nichts, und das aus gutem Grund, denn sie besaß auch nichts. Doch, einen Radiowecker. Das war alles. Das ganze Gemetzel für ein Teil, das sie wahrscheinlich für fünfzig Franc bei einem Chinesen gekauft hatte.
Sie sammelte ihre Kleider zusammen, steckte sie in einen Karton, bückte sich nach ihrem Koffer und ging, ohne sich umzudrehen. Erst auf der Treppe ließ sie sich etwas gehen.
Vor der Tür zum Mägdezimmer angekommen, schneuzte sie sich, stellte ihren ganzen Plunder auf dem Treppenabsatz ab und setzte sich auf eine Stufe, um sich eine Zigarette zu drehen. Die erste seit langem. Das Treppenhauslicht war ausgegangen, aber das machte nichts, im Gegenteil.
Im Gegenteil, murmelte sie, im Gegenteil.
Sie dachte an die schwammige Theorie, derzufolge man nichts unternehmen sollte, solange man im Sinken begriffen war, sondern warten, bis man den Grund berührte, von dem man sich abstoßen konnte, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.
Okay.
Da war sie jetzt, oder?
Sie warf einen Blick auf den Karton, fuhr sich mit der Hand über das kantige Gesicht und rückte ein Stück zur Seite, um ein widerliches Krabbeltier durchzulassen, das zwischen zwei Ritzen hindurchflitzte.
Ich will mich nur vergewissern. Da bin ich jetzt, oder?
Als sie in die Küche kam, war er es, der zusammenfuhr:
»Oh! Sie sind da? Ich dachte, Sie schlafen.«
»Guten Tag.«
»Lestafier, Franck.«
»Camille.«
»Haben Sie meine … meine Nachricht gefunden?«
»Ja, aber ich …«
»Sind Sie am Umziehen? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, ich … Ich habe nicht mehr als das, um ehrlich zu sein. Bei mir ist eingebrochen worden.«
»Oh Scheiße.«
»Sie sagen es. Was anderes fällt mir dazu auch nicht ein. Gut, ich werde mich wieder hinlegen, mir schwirrt der Kopf und …«
»Die Consommé, soll ich sie Ihnen zubereiten?«
»Pardon?«
»Die Consommé?«
»Was ist denn eine Consommé?«
»Na ja, die Brühe!« sagte er genervt.
»Oh Pardon. Nein, danke. Ich will erst ein wenig schlafen.«
»He!« rief er ihr nach, als sie schon im Flur war, »wenn Ihnen der Kopf schwirrt, dann liegt das daran, daß Sie nicht genug essen!«
Sie seufzte. Diplomatie, Diplomatie. So gut, wie der Typ aussah, sollte man den ersten Auftritt besser nicht vermasseln. Sie ging zurück in die Küche und setzte sich an den Tisch.
»Sie haben recht.«
Er murmelte etwas in seinen Bart. Na klar. Natürlich hatte er recht. Und Scheiße. Jetzt würde er sich verspäten.
Er wandte ihr den Rücken zu und legte los.
Er goß den Inhalt aus dem Topf in einen tiefen Teller, holte ein Stück Küchenpapier aus dem Kühlschrank und öffnete es vorsichtig. Irgendein grünes Zeug, das er über die dampfende Suppe streute.
»Was ist das?«
»Koriander.«
»Und die kleinen Nudeln, wie heißen die?«
»Japanperlen.«
»Ehrlich? Was für ein schöner Name.«
Er griff nach seiner Jacke und zog kopfschüttelnd die Wohnungstür zu:
Ehrlich? Was für ein schöner Name.
Zu blöd, die Tussi.
3
Camille seufzte, griff abwesend nach dem Teller und dachte an den Einbrecher. Wer hatte das getan? Das Treppenhausgespenst? Ein verirrter Besucher? War er über das Dach gekommen? Würde er wiederkommen? Sollte sie Pierre davon erzählen?
Der Geruch, vielmehr das Aroma dieser Brühe, hielt sie von weiteren Grübeleien ab. Mmm, duftete das herrlich, und sie war fast versucht, sich die Serviette über den Kopf zu legen, um damit zu inhalieren. Was war da nur drin? Es roch ganz eigen. Heiß, nach Fett, goldbraun wie Cadmium. Mit den durchsichtigen Perlen und den smaragdfarbenen Spitzen der Kräuterbeigaben war es wunderschön anzuschauen. Sie saß einige Sekunden regungslos, ehrerbietig da, hielt den Löffel vor sich und nahm dann ganz vorsichtig einen ersten Schluck, es war ziemlich heiß.
Wenn auch kein Kind mehr, war sie im gleichen Zustand wie Marcel Proust: »Gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in ihr vollzog«, und leerte andächtig ihren Teller, die Augen zwischen jedem Löffel geschlossen.
Vielleicht lag es nur daran, daß sie, ohne es zu wissen, am Verhungern gewesen war, oder daran, daß sie seit drei Tagen mit zusammengebissenen Zähnen Philiberts Tütensuppen hinunterschluckte, oder vielleicht auch daran, daß sie weniger geraucht hatte, eines jedenfalls stand fest: Noch nie in ihrem Leben hatte sie mit solchem Vergnügen allein gegessen.
Sie stand auf, um nachzuschauen, ob noch ein Rest im Topf war. Leider nein. Sie leckte ihren Teller leer, damit ihr kein Tropfen entging, schnalzte mit der Zunge, spülte ihr Geschirr und nahm das angebrochene Nudelpäckchen in die Hand. Sie schrieb »Top!« auf
Francks Zettel und verteilte ein paar Perlen darauf, dann ging sie wieder ins Bett und fuhr sich mit der Hand über den straffen Bauch.
Dank sei dir, lieber Jesus.